PETRA LOTTJE
TEXTE (Auswahl)
Ausstellung: SO SIEHT SIE DER KUNDE
24. August–2. Oktober 2024 | Jarmuschek + Partner
Ein schräges Piepen beim Durchziehen der Karte durch einen in die Jahre gekommenen Automaten und wir betreten ihn: Einen Mikrokosmos voller Geschichten, persönlicher Schicksale, Zwischenmenschlichkeiten und Emotionen - ein Warenhaus. Mit ihren neuesten Werken präsentiert uns Petra Lottje künstlerisch verdichtet einen persönlichen Blick auf einen traditionsbehafteten Ort, der als Sinnbild für die Veränderungen in unserer Gesellschaft steht. Abseits medial besprochener Bedrohungsszenarien durch Onlinehandel und Digitalisierung nimmt sie dabei eine ungewöhnliche Perspektive ein und beobachtet die Menschen aus unmittelbarer Nähe.
Anhand von Einzelbetrachtungen zeichnet Petra Lottje das Porträt eines Hauses. Stockwerke mit Verkaufsflächen, Dachterrassen, Pausenräume und eine geschützte Ecke an der Außenmauer bilden den unsichtbaren Rahmen für die wiederholten Begegnungen, Abläufe und Werktagsrituale der hier wirkenden Teilzeitbewohner:innen: Führungskräftebesprechungen, Raucherpausen, Hähnchenverkauf. Ein Schlafgast liegt innerlich aufgelöst auf dem Boden. Von unten nach oben wandert der Blick der Betrachtenden vorbei an der Personaldecke, einem Wesen mit zwei Köpfen und unzähligen Händen, das symbolisch für die verfügbaren Mitarbeiter:innen steht. Mehr wären besser. Eine Reihe von gesichtslosen CEOs bleibt auch namenlos. Ärger und Anstrengung sind nur eine Abteilung entfernt von Erotik und aufkeimender Ausgelassenheit beim Mitarbeiterfest. Ein Trauerstrauß steht als Platzhalter für einen Kollegen, der nicht mehr da ist. Und auch die Kündigung ist ein Abschied von einem Leben. Über allem thronen die Tauben und nehmen sich, was übrig bleibt.
Mit dynamischem Strich schafft die Künstlerin Einzelporträts, Gruppenkonstellationen und atmosphärisch aufgeladene Orte des Geschehens, die als Schlüsselmomente Aufschluss über unser alltägliches Miteinander, unsere Arbeits- und Lebenswelten geben können. Durch Innehalten beim Blick auf das äußerlich Sichtbare macht Petra Lottje einzelne Innenwelten und mögliche Zustände unserer Gemeinschaft anhand kleinster sozialer Einheiten sichtbar.
Wie Splitter in einem Magnetfeld ordnet sie die Menschen und ihre Attribute auf dem Papier an. Anziehungskräfte und Abstoßungen gibt es auch hier. Sie zeigt uns eine reale Bühne, in der jeder für einige Stunden am Tag eine Rolle einnimmt. Auf einem Spiegel, der nun aus Papier ist, steht: SO SIEHT SIE DER KUNDE. Ob Kund:in, Kolleg:in, Vorgesetzte:r oder Familienmitglied: Wieviel zeigt man dem anderen von sich? Wie gestaltet man seine Rolle? Petra Lottje zeichnet auch eine Welt, die jeder kennt: Träume und Bedürfnisse, Ansprüche und Enttäuschungen begleiten uns. Was braucht es, damit bei all unseren Ungleichheiten und Abhängigkeiten ein fragiles System im Gleichgewicht bleibt? In Petra Lottjes Zeichnungen ist die Menschlichkeit zumindest greifbar.
PETRA LOTTJE ist 1973 in Rheda-Wiedenbrück (NRW) geboren und lebt in Berlin. Nach ihrem Vordiplom in Sozialwesen begann sie ein Studium der Freien Kunst an der Akademie der Bildenden Künste in Braunschweig - mit zwischenzeitlichen Aufenthalten in Kanada und den USA. Nach ihrem Diplomabschluss war Petra Lottje 2005 Meisterschülerin bei Prof. J. Armleder. Für ihre Video-Arbeiten, Ein-Strich-Zeichnungen und großformatigen Papiercollagen erhielt die Künstlerin nicht nur unzählige Stipendien und internationale Aufmerksamkeit, sondern auch Preise, Nominierungen und weitere Auszeichnungen. Ihre Arbeiten sind Teil von öffentlichen und privaten Sammlungen und werden regelmäßig im Rahmen von Ausstellungen präsentiert, so zuletzt u.a. im Zentrum für Aktuelle Kunst der Zitadelle Spandau, im Horst Janssen Museum in Oldenburg, im Kunsthaus Potsdam (solo) und im Kunstverein Allgemeiner Konsumverein Braunschweig (solo).
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„Ich habe noch nie ausprobiert, was passiert, wenn ich nicht zeichne“ | November 2023
Ein Gespräch mit der Künstlerin Petra Lottje vom Profanen, Technischen hin zum inneren Licht
Von Patricia Löwe (Guardini akut, Guardini Stiftung)
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Besprechung der Ausstellung “Klasse Damen!” im Schloss Biesdorf
Frankfurter Rundschau | 1. Juli 2019 von Ingeborg Ruthe
”Im Foyer von Schloss Biesdorf in Berlin-Marzahn hängt jetzt eine professorale Puppe von der Kuppeldecke, eine recht sarkastische Skulptur der Zeichnerin Petra Lottje. Frack, Zylinder, winzig lugt der Schniedel aus der Hose. Eine bissige Karikatur für den blamierten Männer-Akademismus. Spott über eine politische Situation und gravierende Unterschiede, auch im Kunstbetrieb.”
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Ausstellungstext "TIMECODE"
Jarmuschek+Partner | 29. April – 6. Mai 2017
„An unserer Sprache, unserer Rhetorik können wir feilen. Doch was der Rest des Körpers währenddessen tut, ist viel schwerer beeinflussbar. Gesten oder Bewegungen sind viel aussagekräftiger als Worte – allein in der menschlichen Mimik gibt es laut Forschungsergebnissen über 10.000 Mikroausdrücke. TIMECODE kommt ohne Worte aus.“ (Petra Lottje)
Ein romantisches Fotoshooting. Ein nicht mehr ganz junges Paar mit einer Taube.
In einer kammerspielartigen Situation des im Zentrum von TIMECODE stehenden 2 Kanal-Videos findet sich der Betrachter in der Perspektive des nicht sichtbaren Fotografen wieder. Durch Zeitlupe, Bildtrennung und den fast vollständigen Verzicht auf Ton offenbart sich, was sonst verborgen bleibt: Die detaillierte Mimik und Gestik enthüllt ein Pendeln zwischen nach außen gewandter Inszenierung und der Besinnung auf das Paarsein, ein wiederholtes Abreißen und Wiederaufnehmen von Kommunikation, die Nähe und Distanz der Protagonisten sowohl im räumlichen als auch die von ihnen gespielte Rolle betreffend.
Die festgehaltene und bis zuletzt nicht freigelassene Taube als fragiler Schützling und Symbol zugleich, wird stetig zwischen den Partnern hin-und hergereicht, erhält schließlich mehr Aufmerksamkeit als die Personen sich gegenseitig schenken, ist gleichzeitig Bindeglied und Störfaktor. Liebevolle Zärtlichkeit und Intimität sind im Laufe der kurzen Aktion ebenso zu finden wie Unsicherheit, Verletzlichkeit und Einsamkeit. Der konzentrierte Blick in die Handlung und die große Nähe zum Geschehen lassen auch kleinste Regungen verstehen, ermöglichen eine Identifikation und das Erkennen des Extremen im Detail: Tief im Verhalten verankerter Narzissmus wird ebenso sichtbar wie das unterschwellige Ringen um Behauptung, Manipulation und Macht im Spannungsverhältnis zum bewussten Gefühl der Verantwortung füreinander und zur gegenseitigen Rücksichtnahme.
In kontraststiftender Ergänzung hierzu steht der zweite Film der Installation, der das Geschehen in Echtzeit wiedergibt. Er bietet dem Zuschauer eine distanziertere Perspektive auf das nun harmonisch wirkende Paar mit der Taube und entlarvt zugleich die Wahrheiten, die wir in unserer tagtäglichen Wahrnehmung zu finden glauben. Transparent darübergelegt ist die hoch symbolisch und assoziativ aufgeladene Aufnahme von Federn und Eiern sowie toten und lebendigen Tauben.
Derweil werden die während des Shootings entstandenen Fotos mit dem bereits gewonnenen Hintergrundwissen zum ambivalent anmutenden Beweisstück und lassen den Betrachter nach Indizien für all jenes suchen, was das Foto letztendlich nicht vollends preiszugeben vermag.
Mit brillanten Schauspielern (Corinna Kirchhoff und Matthias Neukirch), einfühlsamer Kamera (Andreas Gockel) und einer klaren, reduzierten Bildsprache zeigt Petra Lottje eine sensible, spannungsreiche und intensive Nahaufnahme des kleinen, aber komplexen Kosmos Beziehung. Ohne durch Hintergründe, Dialoge oder Umgebungsbeschreibungen eine konkrete Erzählung zu gestalten, schafft diese Arbeit es, dem Zuschauer eine Essenz des menschlichen Miteinanders sichtbar zu machen, die berührt und uns zu bewegen vermag, über diese kleinste gesellschaftliche Einheit weit hinaus nachzudenken.
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Ausstellung “ISOMERE”
Jarmuschek+Partner | 7. März – 18. April 2015
Im Rahmen ihrer Ausstellung „Isomere“ präsentiert Jarmuschek+Partner erstmals die 2014-15 entstandenen Zeichnungen der in Berlin lebenden Künstlerin Petra Lottje. Sie ist vor allem bekannt für ihre Videoarbeiten, welche bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden und eine beachtenswerte mediale Resonanz erhielten. Diesen Videoarbeiten fügt sie nun für sich stehende Zeichnungen hinzu.
Beinahe minimalistisch wirken die Umrisse der aus einer zusammenhängenden Linie geformten Menschen. Mit Linien, die nie enden wollen und alles verbinden, sucht sie nach Formen und Grenzen des Greifbaren. Die Platzierung von Gruppen, Paaren oder Einzelpersonen vor leerem Hintergrund verweist zum einen auf die Materialität des Gezeichneten und zum anderen auf die Universalität der dargestellten Situationen, Codes und Konflikte.
Wie eine Chemikerin untersucht Lottje die Bestandteile des Alltags, um sie einzeln in ihrem Reaktionsraum zu betrachten. Der programmatische Ausstellungstitel „Isomere“ greift diese wissenschaftlich analytische Herangehensweise auf. Isomere (griech.: gleichteilig) sind chemische Verbindungen mit gleichen Summenformeln, aber unterschiedlichen Strukturen und Eigenschaften. Zwar haben alle Dinge und Lebewesen unterschiedliche Charakteristika, aber dennoch bestehen wir aus den gleichen Bauteilen wie unsere Umgebung. Diese Metapher betont zum einen die verschwimmenden Grenzen zwischen den Paarungen - beispielsweise Individuen und ihrer Umwelt - in den Zeichnungen Lottjes, zum anderen setzt sie die Austauschbarkeit des Einzelnen in ein Spannungsverhältnis zu seiner Unersetzbarkeit, da die Isomere trotz ihrer Diversität ein undurchdringliches Netz weben.
Der Mensch als soziales Wesen bleibt so stets zentrales Thema der Arbeiten Lottjes. Die neben den Zeichnungen präsentierten Videoarbeit „Jedes Zimmer hinter einer Tür“ bricht die Kongruenz von Identität auf, indem die Künstlerin mit der Methode des Lipsynch die Stimmen von den Sprechern trennt und neue Einheiten konstruiert. In den 22 Sequenzen übernimmt sie den O-Ton aus Spielfilmen und inszeniert selbst die weibliche Hauptfigur im Bild. Die Schauspielerin ist ein Isomer der Rolle und die Künstlerin ist Isomer der schauspielenden Person. In der 2-Kanal-Installation schafft Petra Lottje eine Komposition, mit der sie die potentielle Zeitgleichheit diverser Emotionen von nichtlinear abbildbaren Zuständen einfängt.
Wie die Videos durch die Auflösung der Homogenität von Bild und Ton einen subjektiven Erfahrungsraum kreieren, so werfen auch die Zeichnungen die Betrachter durch die Leerstellen auf sich selbst zurück und stoßen eine Reflexion über die Grenzen des eigenen Selbst hinaus an.