CARINA LINGE
TEXTE und mehr (AUSWAHL)
Wie die Zeit verstreicht | von Angelika Leitzke
Der Tagesspiegel - Kunst & Markt am 12. November 2024 (print)
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Carina Linge – The Unsaid
Ausstellung: 12. Oktober- 16. November 2024 | Jarmuschek + Partner
Atmosphärisch und symbolisch aufgeladene Fotografien, präsentiert in mehrteiligen Bild-Tableaus, sind charakteristisch für die künstlerische Arbeitsweise von Carina Linge. Mit ihren neuesten Werken führt die Leipzigerin ihre Serie psychogrammartiger Porträts ausgewählter Künstlerinnen weiter. Auch eine Selbstbetrachtung nimmt sie dabei vor.
Tiefgreifende Gefühlswelten werden in Carina Linges perfekt inszenierten Stilleben und Körperbildern sichtbar. Sinnliche Schönheit trifft darin auf eine große Melancholie und eine Fragilität, die nicht nur die Protagonistinnen in ihren individuellen Situationen betreffen, sondern auf übergeordneter Ebene zu spüren und nachzuempfinden sind. Verluste, Veränderungen und die Herausforderungen neuer Lebensphasen sind auf vielseitige Weise greifbar.
Ein Oldtimer wartet ohne Kennzeichen in einer Garage. Ein roter Faden führt die Betrachtenden zu einer alten Fotografie. Auf einem geblümten Sofa sind einige in die Jahre gekommene Bauklötze platziert, während auf dem Boden darunter ein menschlicher Schädel liegt. Verborgenen Kindheitserinnerungen und Familiengeschichten nachspürend, sind viele der fotografischen Motive kleine emotionale Zeitreisen, welche rückbesinnend zu den Porträtierten hinführen und sie sozial verorten. Carina Linge überführt die persönlichen Zustände und Verfasstheiten in intuitiv lesbare Bilder voll hintergründiger Verweise und gesellschaftspolitischer Anspielungen. Auch Unterbewusstes und längst Vergessenes kommt zum Vorschein: Eine Figur verschwindet geisterhaft in der Dunkelheit, Falter als Sinnbilder für die Psyche tauchen an überraschenden Stellen auf. Immer wieder weisen Indizien auf gefühlte Verbindungen hin, die sich mit jenen Hoffnungen, Sehnsüchten und Bedürfnissen mischen, welche das menschliche Dasein, Identitäten und Beziehungen prägen.
Literarische Zitate und kunsthistorische Referenzen sind bei Carina Linge auch unterschwellige Beweise dafür, dass Liebe und Tod die Menschen seit jeher universell bewegen. Klassische Elemente barocker Stilleben wie ein makelloser, aber toter Vogel und für kurze Zeit aufblühende Blumen weisen als Vanitas-Symbole auf die Vergänglichkeit hin. Gedichte von Hölderlin und Hermann Hesse stehen derweil Pate für zwei Werktitel. Mit einem zentralen Bild spielt die Künstlerin auf das Gemälde Der heilige Hieronymus des italienischen Malers Caravaggio an. Wie der gelehrte Bibelübersetzer inszeniert sich Carina Linge hier selbst im wogenden Umhang an einem Tisch mit Büchern. Die Erschöpfung im Zuge der Aufgaben und des Erfüllungsversuchs, einer Erwartung an die eigene Rolle im beruflichen und privaten gerecht zu werden, wird den Betrachtenden - anders als bei Caravaggios männlichem Protagonisten - nicht vorenthalten. Ist das zeitgemäße Transparenz, ein Aufschrei oder schlicht eine Zustandsbeschreibung? Carina Linge nutzt ihr eigenes Medium und transformiert die Emotionen unserer Gegenwart direkt in starke, eingängige Bilder, die individuell gelesen und verstanden werden können - und die berühren.
Carina Linge ist 1976 in Cuxhaven geboren und lebt in Leipzig. Nach einem Lehramtsstudium der Kunst und Germanistik in Greifswald studierte sie Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar bei Prof. Elfi Fröhlich und Prof. Norbert W. Hinterberger. 2007 und 2014 erhielt sie dort selbst Lehraufträge. Arbeiten von Carina Linge erhielten bereits vielfach internationale Beachtung und sind u.a. in den Sammlungen des Museum of Contemporary Art in Krakau (MOCAK), Polen, des Freistaates Thüringen, der Kunsthalle Rostock und in der Sammlung des Deutschen Bundestages vertreten. Zu Beginn dieses Jahres war ihr aktuelles Tableau L.E. in der von Katharina Schilling kuratierten Ausstellung The Bad Mother im Haus am Lützowplatz in Berlin zu sehen. Ihre Arbeit Verschüttete Milch wurde daraufhin für das Cover des renommierten Kunstmagazins Kunstforum International ausgewählt und besprochen. Während des diesjährigen Deutschen Katholikentages im Juni wurde Carina Linges fotografische Serie Nachsommer in einer Einzelausstellung in der Kunsthalle Erfurt präsentiert.
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Die erschöpfte Mythologie des Mutterdaseins | von Ann-Katrin Günzel
Kunstforum International Bd. 295 mit Carina Linges Werk “Verschüttete Milch” auf dem Cover !
und Abbildungen des Tableaus L.E. (2023) im Textteil
[…] Auch wenn die Rollenzuschreibungen inzwischen unklarer sind, traditionelle Familienkonstellationen sich in Patchwork- oder Regenbogenfamilien entwickeln, Alleinerziehende, Co-Parenting und Pflegefamilien einen ebenso großen Stellenwert haben, wie die klassische Mutter-Vater-Kind(er)-Gemeinschaft, sind es nach wie vor dreiviertel der Frauen, die die klassische Mutterrolle übernehmen, also für Pflege und Fürsorge und Erziehung der Kinder da sind. Das zeigt zwar einerseits, wie präsent die Vorstellung der für alle(s) sorgenden, madonnenhaften Mutter auch heute noch in vielen Köpfen ist, dennoch haben sich die Bilder für Mutterschaft in der Kunst der letzten Jahrzehnte stetig verändert, wie es die Stillleben (2023) von Carina Linge (*1976) zeigen, die jüngst im Haus am Lützowplatz in Berlin zu sehen waren. In ihren Fotografien entsteht anspielungsreich eine zeitgenössische Ikonografie von Mutterschaft, neue Bilder von Fruchtbarkeit und Stillzeit, die zwar auf vertraute Bilder verweisen, wenn z. B. ein blaues Milchkännchen auftaucht, das kurz Vermeers Milchmädchen ins Gedächtnis ruft, aber all die Anstrengung und den Kummer enthalten, wenn in der verschütteten Muttermilch das Misslingen und das Scheitern erkennbar werden oder der stark an Marienbildnisse erinnernde Faltenwurf im schimmernd blauen Samtrock, der sich in Gestohlene Nacht um den Schoß der Mutter schmiegt, durch die totale Erschöpfung des Körpers bestimmt wird. Linges Arbeiten waren u. a. Teil der Ausstellung The Bad Mother, ein von einer Arbeit von Louise Bourgeois entlehnter Titel, welcher die ambivalenten Gefühle der Künstlerin-Mutter deutlich
macht […]
-> ganzer Text online lesbar hier.
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Carina Linge – Nachsommer (2022)
Für die Entwicklung ihrer fotografischen Serie Nachsommer war die Leipziger Künstlerin Carina Linge in einem besonderen Haus zu Gast: In der mittelalterlich geprägten Umgebung des heute evangelischen Klosters Lüne hat sie drei Konventualinnen porträtiert. Persönliche Lebenswirklichkeiten und innere Verfasstheiten der Protagonistinnen spielen in den neu entstandenen, atmosphärisch aufgeladenen Bildern ebenso eine Rolle wie der mit Traditionen und Geschichten aufgeladene Ort.
30 Minuten Kunst | zu Gast bei Jens Trocha
CARINA LINGE über ihre fotografische Serie Nachsommer
Podcast vom 2. Mai 2024
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Die Philosophie einer Pfütze | Auszug aus dem Feuilleton-Artikel von Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung (print, 12. Januar 2024)
Ausstellung The Bad Mother im Haus am Lützowplatz (25. November 2023– 11. Februar 2024)
So sieht das Stillleben einer kleinen Alltagskatastrophe aus: Einmal nicht aufgepasst und schon ist der Inhalt der Abstill-Pumpe auf den Boden geflossen. Carina Linges Fotomotiv vermittelt Symbolsprache; denkt man doch beim Anblick der blauen Kanne auf dem Tischchen auch gleich noch an Vermeers berühmtes „Milchmädchen“. Aber dessen Anblick ist die kunstgewordene Sanftmut schlechthin. In der Muttermilchpfütze der Leipziger Fotografin schwimmen Glassplitter des zerbrochenen Glases. Man ahnt es schon, es geht in dieser Ausstellung des Hauses am Lützowplatz (HAL) nicht um die Apotheose der Mutter im Sinne der sakrosankten Maria, ums ewige Klischee des Beherrschens des alltäglichen Chaos, des Herzzentrums und der Hüterin des Familienglücks. Hier setzt Kunst sich philosophisch und auch herbpoetisch auseinander mit Erwartungshaltungen und dem alltäglichen Balance-Akt zwischen Selbstaufgabe und Selbstbehauptung. Und es wird die Frage gestellt, ob Mütter auch sexy und mal egoistisch sein dürfen, statt selbstaufopfernd und verzichtend in diesem lebenslangen Beziehungsgeflecht zu den Kindern, so wie der traditionelle Kodex es verlangt. Der Anblick tut weh, und man spürt förmlich im Bildraum auch die Wut, die Überforderung, den Verdruss über das Chaos, das dieses Missgeschick verursacht. Verständlich, wenn wir im Foto gegenüber die junge Mutter völlig müde, erschöpft, apathisch über den Küchentisch gelehnt sehen. [..]
-> ganzer Artikel digital lesbar auf www.berliner-zeitung.de
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Carina Linge – “New Age of Dissent”
Ausstellung 17. Oktober – 14. November 2020 | Jarmuschek + Partner
im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie Berlin (EMOP)
Mit dem Titel ihrer neuen Serie „New Age of Dissent“ setzt die Künstlerin Carina Linge geschickt einen Link zur britischen Journalistin, Autorin und Feministin Laurie Penny, die in dem 2011 erschienen Band „Notes from the New Age of Dissent“ ihre Blog-Texte versammelt. Laurie Penny, die sich selbst als feministische Futuristin bezeichnet, schreibt wütende, leidenschaftliche, und zugleich durchaus humorvolle Texte über die Ängste und Frustrationen, die eine Mehrheit der jüngeren Generation kennt. Sie gibt damit jenen, die ihre stillen Ängste nur als anhaltende Unzufriedenheit ausdrücken können, eine Stimme. Dies trifft auch auf die Künstlerinnen und deren Arbeiten zu, welche Carina Linge in ihren psychogrammartigen Porträts in Form von Bild-Tableaus präsentiert. Während die Innere Gefühlswelt der Protagonistinnen sichtbar gemacht wird, offenbaren die Fotografien auf subtile Weise Einblicke in Phänomene unserer Zeit, die diese Künstlerinnen bewegen und umtreiben - etwa sexuelle Identität, Ausgrenzung, Benachteiligung und Kapitalismuskritik.
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100 Jahre Frauenwahlrecht | 19 + 1 Künstlerinnen
Ausstellung in der Abgeordnetenlobby des Reichstagsgebäudes in Berlin
-> Kristina Volke über Carina Linges Scaramouche (NK. Doege)
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Carina Linge – “A Primo Ad Extremum”
Ausstellung 29. September – 27. Oktober 2018 | Jarmuschek + Partner
Gegenstände, die aufgrund ihrer Geschichte, einer Besonderheit oder einer emotionalen Bindung einen persönlichen ideellen Wert besitzen, findet man in fast jeder Wohnung. Oft werden sie wie kleine Schätze präsentiert, sind zur Schau gestelltes Exponat ebenso wie individuelles Objekt-Gedächtnis.
Vor der Folie historischer Kunstkammern inszeniert Carina Linge in ihren neuesten Arbeiten jene Dinge, die für ihre Besitzer aus persönlichen Gründen besonders wertvoll sind. Die privaten Kostbarkeiten werden aufwendig ausgeleuchtet und zusammen mit solchen aus existierenden Sammlungen abgebildet.
Es entstehen auratische Fotografien, die sich mit ihren jeweils eigenständigen Geschichten und Bedeutungen gleich einem Objekt-Katalog aneinanderreihen und zudem in einen wechselseitigen und vielschichtigen Dialog miteinander treten. Dieser wird im Rahmen einer Installation durch die Präsentation ausgewählter Gegenstände ergänzt, wodurch ein komplexes, spannungsreiches und assoziativ aufgeladenes Bezugssystem entsteht, das über ursprüngliche Bedeutungen weit hinausreicht.
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Carina Linge + Corinne von Lebusa - “In den Tiefen der Gründe"
Ausstellung 5. November 2016 – 10. Dezember 2016 | Jarmuschek + Partner
Ein Strom von Bildern, Gedanken und Emotionen beschäftigt uns jede Nacht aufs Neue; mitunter lässt er uns verwirrt, verängstigt, beschämt, freudig oder sehnsuchtsvoll, zumeist aber berührt und bewegt aufwachen. Zusammenhangsloses und Absurdes gibt uns das Gefühl, unser sorgfältig gehegtes Selbstverständnis als moderne, denkende und kontrollierte Wesen sei eigentlich pure Selbsttäuschung und tatsächlich verbringe man ein Drittel seines Lebens in einer Form von Wahn...
Die Ausstellung „In den Tiefen der Gründe“ von Carina Linge und Corinne von Lebusa dreht sich um eben diese Parallelwelt, die uns trotz intimer Nähe immer auch entrückt und unbegreiflich scheint. Weniger geht es den beiden Künstlerinnen um ein vernünftiges oder wissenschaftliches Ergründen, vielmehr erschaffen sie in ihren neuen Arbeiten eine nächtliche Bildwelt, die vor unserem wachen Auge das Wirkliche mit dem Unwirklichen verbindet und eine Essenz jener Emotionen, Begierden, Ängste und Abgründe offenbart, die sonst der Traum viel eindrücklicher zu vermitteln vermag.
Die kraftvollen Figuren und abstrakten geometrischen Formationen in Corinnes von Lebusa fein gewobenen Arbeiten erscheinen wie lebendige und doch mysteriöse Sinnbilder von Lust, Erotik und Rollenspiel. Selbstbewusst weiblich, genießerisch oder verspielt fordern sie den Blick und die Reaktion des vermeintlichen Voyeurs heraus, kokettieren mal augenzwinkernd und anregend, mal höhnisch und bedrohlich mit Inszenierungen, Gesten, Klischees und Fantasien. Hin- und hergerissen zwischen Faszination und Selbstbefragung wird der Betrachter in ihren Bann gezogen. Im Versuch, die Botschaft des Gesehenen zu begreifen, wird er immer wieder auf sich selbst und seine eigenen Assoziationen verwiesen.
Eine geheimnisvoll diffuse Atmosphäre, in der unterbewusste Wünsche und Ängste greifbar werden und Alltägliches verschwimmt, erschafft Carina Linge in ihren neuen anspruchsvoll inszenierten Fotografien. Mit bewusst gesetzten Referenzen an bekannte Werke der Kunstgeschichte – von Marcel Duchamp über Francis Bacon zu Gerhard Richter – nutzt sie eine vertraute Bildwelt als Schlüssel zur Ergründung der emotionalen Verfasstheit und Zerbrechlichkeit des modernen Menschen. Leerstellen werden mit den subjektiven Erinnerungen des Betrachters aufgefüllt, Sichtbares wird um den Bereich der Imagination erweitert und die Bewegung wird zum Ausdruck des Gefühls selbst. Carina Linge lässt uns melancholisch auf eine nebulöse Grenzwelt zwischen Realität und Fiktion blicken, in der noch nicht alles festgelegt ist und die uns ebenso Fluchtort wie Spiegel der Wirklichkeit sein kann.
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